Die Frage bei der diesjährigen Ausschreibung des Karl Hofer Preises lautete: Was ist das Neue am Neuen? Es handelt sich also, dabei um eine selbstreflexive und deswegen auch schwierige Frage: Das Neue selbst wird hier auf seine Neuigkeit hin befragt. Man kann diese selbstreflexive Frage sicherlich als Frage nach dem Wesen des Neuen verstehen - d.h. danach, was das Neue als Neues ausmacht. Nun konnte man eine so verstandene Frage aber relativ leicht beantworten - und zwar durch den Hinweis, dass das Wesen des Neuen eben darin besteht, kein Wesen zu haben. Das Neue ist seinem Wesen nach dann neu wenn es als neu erscheint.
Man kann aber die gleiche Frage auch anders interpretieren: nämlich als Frage ob die Art und Weise, wie sich das Neue zeigt, heute auch anders, neu geworden sind. Zu verschiedenen Zeiten suchte man nach dem Neuen an sehr unterschiedlichen Orten, und man erwartet das Erscheinen des Neuen aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Darüber hinaus ändern sich ständig die Kriterien, nach denen wir das Neue als Neues identifizieren und beurteilen. So kann man die Frage verstehen: Wie wartet man heute auf das Neue? Und was erwartet man vom Neuen?
Auf diese Frage gibt die Arbeit “Milleniumania” von Nina Fischer und Maroan el Sani eine gut formulierte Antwort. In dieser Arbeit wird vor allem das Phänomen der Globalisierung thematisiert oder vielleicht. besser gesagt, der Traum der Globalisierung, der ja in der Tat am Ende dieses Milleniums die öffentliche Imagination, in einer ganz besonderen Weise beschäftigt. Man hofft nämlich heute, das Neue auf dem Weg der Globalisierung anzutreffen: Das ist die Perspektive, in der die Ankunft des Neuen. des Utopischen, des Anderen heute erwartet wird. Darin steckt freilich eine gewisse Ironie. denn früher haben wir das Neue vielmehr von der Zukunft erwartet. Aber da wir jetzt vor einer Zeitgrenze - der Milleniumsgrenze - stehen, ändert sich unser Blick: Statt weiter, wie ein Strahl in die Zukunft gerichtet und auf das Zukünftige fokussiert zu sein, erweitert er sich - und wird plötzlich rund, eben global.
Heutzutage wird überall über die Globalisierung gesprochen - in der Wirtschaft. in der Politik, aber ganz besonders in der Kunst. Von jedem einzelnen Teilnehmer des Kunstgeschäfts, sei er Künstler, Kurator oder Kritiker, wird heute erwartet dass er seine Produktion in einem globalen Zusammenhang kontextualisiert. Diese Forderung erfüllt das Herz des Einzelnen gleichzeitig mit Hoffnung und Angst. So versucht jeder sich möglichst schnell einen globalen Blick anzueignen, um das globale Urteil über sein Werk zu antizipieren und vielleicht auch zu korrigieren. Wie könnte sich aber der Einzelne anmaßen, eine globale Perspektive zu besitzen'] Wie kann ein endlicher, sterblicher Mensch mit einem notwendigerweise sehr begrenzten Horizont je zum Träger eines globalen Blicks werden? Auf jeden Fall ist klar, dass wir hier erneut mit der alten, romantischen, avantgardistischen Forderung konfrontiert werden, unseren Blick zu ändern, die Welt neu zu sehen - allerdings mit dem Unterschied, dass dieser Blick wie gesagt, nicht mehr zukunftsgerichtet d.h. nicht traditionell avantgardistisch sondern global sein soll.
Der utopische Impuls hat seine Richtung gewechselt. Man sucht nach dem nach dem Neuen nicht mehr in der Zeit, sondern im Raum. Die Globalisierung hat die Zukunft als Ort der Utopie abgelöst. Die Globalisierung ist eigentlich nichts anderes als der Name für diese neue räumliche Utopie. die die zeitlichen Utopien der Moderne am Ende des Milleniums abgelöst hat. Von der Globalisierung erwartet der Einzelne heute die gleiche erlösende, rettende Wirkung. aber auch die gleichen Gefahren. die er früher von der Zukunft erwartet hat. In diesem Sinne ist die oft beklagte heutige Depolitisierung der Kunst übrigens eine Illusion - statt der avantgardistischen Politik der Zukunft praktiziert man heute die Politik der Globalisierung. Früher hat der Künstler, der kein Verständnis für sein Werk innerhalb seiner lokalen Kultur finden konnte, seine Hoffnungen vor allem auf die Zukunft projiziert. Dementsprechend hat er versucht. die Denkweise seiner sozialen Umgebung zu verändern, eine neue Gesellschaft, einen neuen Menschen. d.h. letztlich einen neuen Betrachter ins Leben zu rufen und sich zu diesem Zwecke mit den politischen Kräften zu verbinden, die ebenfalls eine gesellschaftliche Transformation angestrebt haben. Heute erzeugt die Anerkennung außerhalb der eigenen Region einen Gegendruck auf die lokalen Strukturen, den ein lokaler Künstler oder Intellektuelle durchaus strategisch benutzen, um auf die Verhältnisse im eigenen Land Einfluss zu gewinnen .
Wie verschafft man sich aber praktisch einen globalen Blick, den man heute so nötig hat? Das ist gerade der Punkt, an dem die Autoren der “Milleniumania” ihre Reflexion über den globalisierenden Blick ansetzen. Dabei stellen sie sich nicht so sehr die Frage nach den institutionellen, politischen oder ökonomischen Bedingungen der Globalisierung, wie es in der Regel üblich ist; als vielmehr die Frage nach dem technischen, formalen Verfahren, das beim einzelnen Menschen den Effekt eines globalen Blicks erzeugt. Damit sich mein Blick erweitern und globalisieren kann, muss der Erdball nämlich miniaturisiert und virtualisiert werden. Der romantische, universelle, globale Betrachter des Erdganzen war immer schon auf solche verkleinerten Bilder angewiesen, die ihm die Welt vor Augen hielten - damals war es die Malerei, heute ist es das Internet, das eine Illusion der weltweiten, Übersicht erzeugt. Der Mensch bekommt zwar einen globalen Überblick - aber nur über eine zuvor verkleinerte Welt. Um die Beschaffenheit des globalisierten Blicks zu verstehen, muß man deswegen zunächst einmal die Mechanismen der technischen Verkleinerung und Übertragung verstehen; die die Welt dem Blick des Einzelnen zustellen. Und eben diese Technik unterziehen die Autoren in ihrer Arbeit einer durchaus ironischen Reflexion, denn sie zeigen, wie faszinierend, aber auch wie problematisch und brüchig dieser Vorgang der Verkleinerung und Übertragung eigentlich ist, auf den der globalisierte Blick angewiesen ist. Die Künstler stellen den Betrachter in die Mitte einer Welt, die sich permanent um ihn herum dreht. Alles bewegt sich - er allein bleibt stehen inmitten der allgemeinen Betriebsamkeit.
Der Betrachter ist hier kein Tourist, kein Flaneur mehr, andere flanieren durch die Straßen unterschiedlicher Städte, er aber bewahrt eine göttliche Ruhe. Und er sucht auch nicht nach dem Anderen oder Exotischen. Die Autoren vermitteln die Bilder der Großstädte, deren Bewohner in die allumfassende Bewegung der Globalisierung involviert sind. Diese Großstadtbewohner werden von der Bewegung der Globalisierung - von der Milleniumania vollständig erfasst. Aber diese Manie eröffnet ihnen keine globale Perspektive. Eine globale Perspektive bekommen nur die Künstler, indem sie ruhig bleiben inmitten der ununterbrochenen Bewegung. Die Globalisierung zeigt sich hier als ein rein virtuell und technischen hergestellter Vorgang - letztendlich als eine Simulation. Reale Menschen bewegen sich nicht global, sondern lokal - jeder und jede an ihrem eigenen Ort. Für sie ist der globale Blick bloß eine neue Utopie. Diese disparaten Bewegungen werden erst durch die Künstler miteinander koordiniert und damit globalisiert. Der Effekt der Globalisierung entsteht allein durch die künstlerische Arbeit. Nur diese Arbeit ermöglicht den globalen Blick und verbindet einzelne maniakale Bewegungen zu einer künstlichen virtuellen Einheit. Diese Künstlichkeit wird besonders durch die Unterschiede in der Geschwindigkeit mit der sich einzelne Bildfragmente im Kreis bewegen, und durch die schwarzen Streifen unterstrichen, die die einzelnen Fragmente voneinander trennen und damit zeigen, dass sie letztendlich doch nicht eine einheitliche, weltumspannende Bewegung bilden können.
Allerdings ist die Ironie dieser Arbeit höchst ambivalent. Schon Kant hat in seiner Theorie des Erhabenen bemerkt. dass sogar die Berge immer noch zu klein sind, um das Unendliche und Unermessliche adäquat darzustellen. Wenn wir bei ihrer Betrachtung das Gefühl des Unendlichen erleben stammt dieses Gefühl von der Idee des Unendlichen, die allein in unserer Imagination zu finden ist - und durch die Realität, inklusive der Realität einer globalisierten Welt, lediglich angeregt werden kann. Unsere Bilder von der Welt sind kleiner als diese Welt aber unsere Imagination, die von diesen Bildern inspiriert wird, ist viel größer als die Welt und viel globaler. Das Gefühl des Erhabenen entsteht in uns dementsprechend nicht allein durch die 'Wirkung der Natur - dafür brauchen wir zusätzlich eine bestimmte Kultur, eine bestimmte Erziehung, die uns befähigt, von dem Anblick der gewaltigen, aber doch endlichen Kreationen der Natur zur Idee des Unendlichen überzugehen. Ein Bauer der in den Bergen lebt, sagt Kant kann das Erhabene in den Bergen nicht erkennen: Dafür fehlt ihm die nötige Kultur.
So produziert auch die “Millenniumania” im Betrachter - gerade durch ihren ironischen Unterton - die erhabene Vision einer globalisierten Menschheit, die in einer unendlichen Bewegung ununterbrochen um den Erdball kreist - die Vision einer, kollektiven Manie, für die auch die Erde viel zu klein zu sein scheint.
1.Revolution
Das Thema der diesjährigen ISEA in Manchester ist "Revolution". Um das bedeutungsschwangere Thema nicht ausufern zu lassen, haben sich die Veranstalter auf eine Leitfrage geeinigt: Wie stark hat Technologie die Spielregeln verändert? [link:www.isea98.org] Neben zahlreichen Vorträgen von u.a. Scanner, Toshiya Ueno/Tapio Makela, und Coco Fusco gibt es auch dieses Mal einen Ausstellungsteil, indem die Berliner Medienkünstler Nina Fischer und Maroan el Sani zwischen dem 3. und 20. September ein Projekt präsentieren, das die Weltzeitzonen nicht mehr nach der GMT, sondern nach dem subjektiven Zeitempfinden (repräsentiert durch Fussgängergeschwindigkeit) unterteilt. Das Projekt nennen sie "Millenniumania". Stichworte unserer Zeit, wie Nomadentum, Urbanismus, finden sich darin genauso reflektiert, wie unsere projektive Einstellung zum 21. Jahrhundert. Nina Fischer und Maroan el Sani geben vor, eines Tages beim Frühstück beschlossen zu haben, zum Jahrtausendwechsel zur Datumsgrenze zu reisen. Obgeich es als narratives Element innerhalb der Projektpräsentation zu verstehen ist, scheint noch etwas anderes dahinter zu stehen, was die Künstler bestätigen: "Unsere Arbeiten entstehen aus der Situation und dem Jahr heraus, in dem wir sie realisieren. Sie haben immer einen sehr aktuellen Bezug zu Themen, die gerade relevant sind, daher planen wir das nicht im voraus. Die Idee zu "Millenniumania" entstand in unserem Umfeld: das was wir erleben, im TV sehen, lesen. Darin unterscheidet sich millenniumania nicht von anderen Projekten. "Das neue an diesem Projekt ist, dass die Künstler daran sicher länger arbeiten werden, als an bisherigen Arbeiten. Die Realisierung ist von Anbeginn in mehrere Phasen gegliedert: von einer Videoskizze, über 3D-Simulationen, bis zur entgültigen www.-Onlineversion durchläuft das Projekt etliche bereits determinierte Etappen.
2. Die Welt-Zeit-Uhr
Vor zwei Jahren hat das Künstlerpaar angefangen an "Millenniumania" zu arbeiten. 1997 haben sie in Leipzig in der Galerie Eigen+Art und in Istanbul bei der Ausstellung "In Media Res", die erste Version vorgestellt. Für ein Video haben sie die Stadt Berlin in 24 imaginäre Zeitzonen unterteilt und innerhalb derer Aufnahmen von Passanten gemacht. Die durchschnittliche Fussgänger-Geschwindigkeit jeden Ortes wurde ermittelt und festgelegt; sie bestimmte die Geschwindigkeit der Bilder, die unterschiedlich schnell von rechts nach links im Monitor aneinandervorbeiziehen, sich überholen/überlappen. Den Bilder-Sequenzen entströmt eine ungewöhnlich lyrische Note: urban ambient. Der Grundgedanke für die neue, in Manchester vorgestellte Version, ist geblieben. Eine technische Erweiterung wurde eingeführt. Die 24 Fussgängervideos aus Berlin wurden in Quicktime-Movies umgewandelt. Im Macro-Media-Director wurden ihnen dabei bestimmte Eigenschaften, wie die zuvor ermittelte durchschnittliche Fussgänger-Geschwindigkeit, zugeordnet. Ferner werden die Fussgängervideos nun von einem Zentralrechner auf einen datenfähigen Videobeamer geleitet. Die Video Beams projizieren die Segmente, die einen vollständigen Kreis ergeben, auf einen 360 Grad-Schirm. Der Zuschauer kann dann, von der Mitte des Rondells aus, die wechselnden Konstellationen der Orte zueinander verfolgen, die sich um ihn drehen.
Wie Nina Fischer und Maroan el Sani selbst sagen ist "dieses Rondell, dieses Rennen im Kreis, ein ganz altes Bild. Man begreift schnell, worum es geht: ein Wettbewerb, ein permanenter Kreislauf von 24 Akteuren". Das Endziel besteht darin, Akteure aus 24 verschiedenen Orten und Zeitzonen im Rondell zum Laufen zu bringen: Eine computergesteuerte Installation, in die per Internet ständig Fussgänger-Videoaufnahmen von 24 verschiedenen Orten aus den 24 Weltzeitzonen eingespeist werden. Das ganze in real time, versteht sich. Dadurch soll erkennbar werden, welcher Ort zur jeweiligen Zeit das grösste oder das geringste Tempo aufweist. Sie nähern sich damit einem metabolistischen Ansatz, indem Raum-Zonen nach der Geschwindigkeit sozialer Aktivitäten/Bewegungen unterteilt werden. Eine Diskrepanz zwischen der "Weltordnung im Rondell" und der der 24 Zeitzonen wird fühlbar.
"Die GMT ist eine gesetzte Zeit um Welt-Handel und Verkehr zu organisieren. Die Zeiten, mit denen die Fussgänger laufen, oder mit denen sich Menschen an unterschiedlichen Orten der Welt bewegen sind jedoch ganz verschieden. Wir haben eine Theorie aufgestellt, die besagt, wenn jemand langsamer lebt, also seine innere Uhr einfach etwas langsamer läuft, braucht er länger um den Jahrtausendwechsel (z.B.) zu erreichen. Das müsste man auf einer Uhr mit Display deutlich machen, wo man sozusagen die Original GMT Zeit mit der eigenen Zeit ständig vergleichen könnte. Das globale Fussgänger Weltzeitzonen Projekt illustriert die Annahme, dass diese oder jene Stadt schneller ist, als diese oder jene andere. "millenniumania" soll dem Betrachter, die reale, jeweils aktuelle Geschwindigkeit in den einzelnen Städten zeigen. Damit wollen wir eine Art WeltZeitUhr entwickelt haben."
3. Als die Bilder laufen lernten
Es ist vor allem die Form des Rondells und die Wahl von gehenden Menschen als zentrales Bildmotiv, das an die Experimente aus der Zeit “als die Bilder laufen lernten” erinnert- also an erste Experimente mit bewegten Bildern, die vor der letzten Jahrtausendwende, Vorstufen zur Entwicklung vom Kino waren. Hier wird eine anachronistische Qualität der Arbeit deutlich, was die Künstler durch den Bezug zur Einführung der GMT in1884 nicht gerade entkräften. "Diese ersten Erfindungen im Bereich der Medien, waren damals genauso spektakulär wie "Millenniumania", das globale Fussgänger Zeitzonen-Projekt heute sein wird" betonen die Künstler. Das Interesse modernste, "verstaubte" Technik und Ästhetik entgegenzustellen, ist ein Anliegen, dass sich durch verschiedene Arbeiten von Nina Fischer und Maroan el Sani zieht. Sie wollen u.a. damit einem Medienfetischismus entgegenarbeiten, im Glauben, dass man bestimmte Aspekte der neuen Kommunikationsgesellschaft besser verdeutlichen kann, wenn man nicht auch noch die sogenannten neuen Medien benutzt, um Bilder herzustellen. Oder wie die Künstler es selbst ausdrücken: "Man kann den Blick zur Medusa, den man ja nicht wagen darf, nutzen, um die Faszination zu beschreiben, die die neuen Medien auf das Publikum haben."
Weiterführende Literatur
* "Ist jede siebte Welle höher?" Ein Interview zwischen Nina Fischer und Maroan el Sani. Metronome #3, 1997. Eine Künstler-Zeitung von Clementine Deliss, produziert in Berlin. Die Beiträge sind ausschliesslich nur von Künstlern, halb Bilder, halb Texte. Nina Fischer und Maroan el Sani wurden um einen Text gebeten, und haben ein Interview, zum Thema subjektives Zeitempfinden gemacht. Dafuer haben sie einen Zettel mit jeweils acht Fragen ausgetauscht, die jeder für sich beantwortete. Das Heft erschien anlässlich Clementine Deliss' Einladung zur dokumenta X und wurde in der Reihe "1oo Tage 100 Gäste" vorgestellt.